Kino: Von der Jahrmarktsattraktion zur Kunst

Kino: Von der Jahrmarktsattraktion zur Kunst
Kino: Von der Jahrmarktsattraktion zur Kunst
 
Ende 1895 präsentierten die Brüder Auguste und Louis Lumière in Paris und Max und Emil Skladanowsky in Berlin einer staunenden Öffentlichkeit die ersten »laufenden« Bilder: Die Geburtsstunde des Films hatte geschlagen.
 
Auch in Großbritannien und den USA experimentierten Erfinder und Unternehmer in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts mit Apparaten, die Bewegung aufzeichnen und projizieren konnten, aber es war der »Cinématographe« der Brüder Lumière, der sich technisch und ökonomisch zunächst durchsetzte: eine relativ leichte, mit einer Handkurbel betriebene Kamera, die zugleich als Kopiermaschine und Projektor genutzt werden konnte. Bis 1898 wurden damit über tausend kurze Filme hergestellt, die von Kameramännern in aller Welt aufgenommen worden waren. Dagegen konnten sich das »Bioskop« der Brüder Skladanowsky, eine Konstruktion aus zwei Projektoren, die abwechselnd Bilder projizierten, und das »Kinetoscope« der Edison Company in den USA, ein Betrachtungsapparat für jeweils nur einen Zuschauer, nicht behaupten.
 
Die ersten Filme waren oft kaum länger als eine Minute, manchmal kürzer, und bestanden aus einer einzigen Einstellung. So filmte Louis Lumière 1895 die Arbeiter seiner Fabrik, die nach Feierabend aus dem Werktor strömten, die Familie seines Bruders beim Frühstück auf der Terrasse oder die Ankunft eines Zuges im Bahnhof. Max Skladanowsky nahm Darbietungen von Varieteekünstlern auf, die er im Anschluss an deren Live-Auftritte im Berliner »Wintergarten« vorführte. Das Publikum der ersten Filmaufnahmen verlangte keine Geschichten - es war einfach fasziniert von der Bewegung, die das neue Medium aufzeichnen und wiedergeben konnte. In den USA wie in Europa fanden die ersten Vorführungen in Varietees und Wirtshäusern statt; Schausteller reisten mit ihren aus mehreren Filmen bestehenden Programmen durch die Lande und präsentierten sie auf Jahrmärkten. Ab 1905 gab es in den größeren Städten der USA die »Nickelodeons« (ein »Nickel« - fünf Cents - betrug der Eintrittspreis) genannten kleinen Läden, die speziell für die Filmvorführung eingerichtet waren; wenig später wurden solche Ladenkinos auch in Europa eröffnet. Deren Besitzer mussten nun einem Stammpublikum wechselnde Programme bieten; sie kauften die Filme nicht mehr, wie die reisenden Vorführer, direkt vom Produzenten, sondern liehen sie von Agenturen, die als Schaltstellen zwischen Produzenten und Betreibern fungierten und sich mit dem Aufkommen der stationären Kinos schnell verbreiteten. Um 1910 gab es kaum noch ambulante Kinematographenvorführungen, und die Ladenkinos wichen nach und nach größeren repräsentativen Kinopalästen. Filmproduktion, -verleih und -vorführung hatten sich als profitable neue Wirtschaftszweige erwiesen und etablierten sich schon bald als die drei wichtigsten Branchen der Filmindustrie.
 
Von Beginn an existierten bereits zwei Auffassungen über die Nutzung des Mediums: Während die Lumière-Brüder und ihre Nachahmer reale Vorgänge filmten, die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten, und somit als die ersten Dokumentarfilmer gelten können, benutzte ihr Zeitgenosse und Landsmann Georges Méliès die neue Erfindung, um in einem Studio eigens inszenierte kleine Handlungsabläufe aufzuzeichnen. Wie bei den Brüdern Lumière bestanden seine ersten Filme aus einer einzigen Einstellung. Er selbst agierte in aufwendigen Kostümen und Kulissen, ließ, durch Anhalten und Weiterkurbeln der Kamera, den »Stop-Trick«, Gegenstände verschwinden und wieder auftauchen und vervielfältigte sich selbst, indem er mehrere Aufnahmen übereinander kopierte. Mit seinen Inszenierungen legte Méliès den Grundstein für das Kino als Illusionsmaschine. Bereits 1902 produzierte er einen aus 30 »Tableaus« bestehenden, 15 Minuten langen Spielfilm, »Die Reise zum Mond«, mit Trickeffekten, die die vielfältigen visuellen Möglichkeiten des neuen Mediums nutzten.
 
Auch in anderen Ländern wurden um die Jahrhundertwende neue filmische Formen erprobt: In Deutschland produzierte Oskar Meßter »Tonbilder«, Gesangs- oder Instrumentalstücke beliebter Interpreten, bei deren Vorführung der Filmprojektor und ein Grammophon synchronisiert wurden. In England experimentierte eine Gruppe von Filmpionieren, die »Brighton School«, schon mit Montagetechniken, die bis heute, etwa bei Verfolgungsjagden, verwendet werden. Und in den USA verband Edwin S. Porter für die Edison Company dokumentarische und fiktive Szenen. Zumeist orientierte sich das Kino in der ersten Dekade seines Bestehens jedoch an bekannten, traditionellen Darstellungsformen: dem Varietee mit seinem aus einzelnen Nummern bestehenden Programm, der Pantomime und den Laterna-magica-Schauen. Mit der Laterna magica, einer Vorläuferin des Diaprojektors, ließen sich mittels Hebel- und Schiebemechanismen Bewegungseffekte und durch schnelle Bildwechsel Überblendungen erzielen. Die Fotografie, die um die Jahrhundertwende bereits über das bloße Abbilden von Fremdem oder Kuriosem hinausgewachsen war und zu einer eigenen »Sprache« gefunden hatte, war dem Film jedoch künstlerisch weit überlegen.
 
Aber auch die Kinematographie entwickelte schnell eigene narrative und ästhetische Standards. Filme bestanden schon bald aus mehreren Einstellungen, und mittels Schnitten und Überblendungen ließen sich dramaturgisch sinnvolle Zusammenhänge herstellen. Dennoch war der Übergang vom reinen »Kino der Attraktionen«, bei dem es um Bewegung und Schauwerte ging, zu den Anfängen des Erzählkinos, wie wir es bis heute kennen, schwierig. Einerseits war das Kinopublikum noch nicht daran gewöhnt, Bilder zu entschlüsseln, Zeitsprünge von einer zur anderen Einstellung »im Kopf« zu überbrücken oder Figuren differenziert wahrzunehmen und »zu verstehen«, andererseits hatte das Medium selbst noch keine verbindlichen ästhetischen Strategien entwickelt, um Geschichten und Figuren glaubwürdig erscheinen zu lassen.
 
Anfangs füllten Kinoerzähler die Lücken zwischen den Einstellungen, akzentuierten Musiker und Geräuschemacher das Geschehen. Als die Filme um 1910 länger wurden - schon Einakter von etwa 15 Minuten Laufzeit bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde galten damals als relativ lang -, ersetzten Zwischentitel die mündlichen Erklärungen. Von Pianisten oder - in den großen Kinopalästen der Zwanzigerjahre - von Orchestern eingespielte Begleitmusik blieb bis zum Ende der Stummfilmzeit üblich. So waren die frühen Filme weder wirklich stumm noch schwarz-weiß: Von Anfang an gab es Verfahren zur Einfärbung der Filmkopien; in den ersten Jahren wurden die Einzelbilder von Hand mehrfarbig koloriert, etwa 1908 ging man dazu über, ganze Szenen monochrom einzufärben, indem man die entsprechenden Filmstreifen in Farbbäder tauchte. Die einzelnen Farben vermittelten bestimmte Informationen über äußere Gegebenheiten wie Tageszeit, Temperatur oder Jahreszeit, aber auch über die Emotionen der Figuren. So stand etwa Rot für Gefahr, Feuer und Liebe; Blau für Wasser, Kälte und Nacht. Ausschließlich schwarz-weiße Filme waren bis Mitte der Zwanzigerjahre selten.
 
In die Zeit um 1910 fällt auch die langsame Verringerung der Distanz zwischen Kamera und Aktion: Die Schauspieler, nun deutlich erkennbar, konnten jetzt statt Typen individuelle Charaktere verkörpern. An die Stelle eines antiquiert-theatralischen Darstellungsstils der großen Gesten trat ein nuancierteres, vor allem mimisches Spiel. Damit war eine wichtige Voraussetzung für das Erscheinen der ersten Filmstars geschaffen. Produktionsfirmen begannen, mit festen Ensembles zu arbeiten und mit den Namen der Schauspieler zu werben. Die Zusammensetzung des Publikums, das sich, zumindest in Europa, anfangs hauptsächlich aus den unteren sozialen Schichten rekrutiert hatte, veränderte sich ebenfalls: In Europa wurden nun auch anspruchsvolle Stoffe aus der Literatur verfilmt, und namhafte Theaterschauspieler verhalfen durch ihre Auftritte dem neuen Medium zu einer Reputation, die es auch für ein gebildetes, bürgerliches Publikum interessant machte.
 
Als erster moderner Filmstar Europas gilt die Dänin Asta Nielsen. Mit ihrer sparsamen und ausdrucksvollen Gestik und Mimik spielte sie von 1910 an zahlreiche Hauptrollen, vor allem in deutschen Produktionen. International bekannt wurde auch der französische Slapstick-Komiker Max Linder, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Hunderten von zum Teil selbst inszenierten Filmen als Dandy auftrat. 1917 ging Linder in die USA, und er wurde zum Vorbild für Charlie Chaplin und Buster Keaton.In den USA waren die Schwestern Lillian und Dorothy Gish die ersten Stars, die gemeinsam mit ihrem Regisseur David Wark Griffith Karriere machten. Griffith, ursprünglich selbst Schauspieler bei der Biograph Company, wurde 1908 einer der ersten Regisseure, die nicht mehr selbst hinter der Kamera standen. Während zuvor die Dreharbeiten in den Händen der Kameraleute lagen, begann mit ihm, der für die Arbeit mit den Darstellern, Beleuchtung, Kulisse, Kostüme und Make-up verantwortlich war, die im Lauf der nächsten Jahre immer weiter fortschreitende Arbeitsteilung in der Filmproduktion. Griffith gilt als Erfinder der Parallelmontage und der »Last minute rescue«, eines dramaturgischen Mittels zur Erzeugung von Spannung: Personen in bedrohlichen Situationen werden in immer rascherem Wechsel mit den herannahenden Rettern gezeigt; das Publikum kann zwei zur selben Zeit an unterschiedlichen Orten ablaufende Geschehen verfolgen.
 
Griffith konnte gegen die Überzeugung seiner Produktionsfirma im beginnenden zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mehraktige Historienfilme drehen und verhalf damit dem »abendfüllenden« Spielfilm zum Durchbruch. 1915 feierte sein Bürgerkriegsdrama »Die Geburt einer Nation« Premiere, mit einer Dauer von etwa drei Stunden der zu diesem Zeitpunkt längste je vorgeführte Film. Vorher war (nicht nur) das amerikanische Publikum in die bereits aus mehreren Akten bestehenden italienischen Historienfilme mit ihren aufwendigen Dekors und Kostümen, exotischen Tieren und riesigen Statistenheeren geströmt, die den Trend zu epischen Filmen begründet hatten. Im Gegensatz zu den anderen, in den ersten Jahren des Jahrhunderts wichtigen Filmnationen Dänemark, Deutschland und Frankreich erlitt in Italien die Produktion erst nach dem Ersten Weltkrieg schwere Einbußen, als sich die USA mit einer rigiden Import- und einer expansiven Exportpolitik als mächtigste Filmnation der westlichen Hemisphäre endgültig durchsetzten.
 
Die ersten beiden Dekaden der Filmgeschichte waren in Europa wie in den USA eine Zeit rasanter technischer und ästhetischer Entwicklungen und ungebremsten wirtschaftlichen Wachstums. Das Kino hatte sich von Zirkus, Varietee und Theater emanzipiert und zu eigenen narrativen und ästhetischen Formen, Codes und Konventionen gefunden. Der abendfüllende Spielfilm hatte sich überall als Standard durchgesetzt, und an der Westküste der USA, in Hollywood, einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Los Angeles, begann sich ein Produktionssystem zu etablieren, das die Nachfrage nach diesem Produkt weltweit zu befriedigen versprach.
 
Dr. Daniela Sannwald und Robert Müller
 
 
Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, herausgegeben von Thomas Koebner. 4 Bände. Sonderausgabe Stuttgart 21998.
 
Geschichte des deutschen Films, herausgegeben von Wolfgang Jacobsen u. a. Stuttgart u. a. 1993.
 
Geschichte des internationalen Films, herausgegeben von Geoffrey Nowell-Smith. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 1998.
 
Lexikon des internationalen Films. Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video, begründet von Klaus Brüne. Bearbeitet von Horst Peter Koll. 10 Bände. Neuausgabe Reinbek 1995.
 Reisz, Karel und Millar, Gavin: Geschichte und Technik der Filmmontage. Aus dem Englischen. München1988.
 
Sachlexikon Film, herausgegeben von Rainer Rother. Reinbek 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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